Isabel Kobus - Literatur - Kurzgeschichte - Romy
Kontakt

Romy

von Isabel Kobus, veröffentlicht in:

Anderswo leuchten die Straßen

und Ort der Augen. Blätter für Literatur aus Sachsen-Anhalt, 1/2012


Merle holt sich in der Cafeteria ein Brötchen. Der Raum ist voller fremder Gesichter, durchhallt von Stimmen. An einem Ecktisch sieht sie das Mädchen. Es ist ihr schon gestern aufgefallen, beim Erstsemestertreffen. Schwarzes Wuschelhaar, Unterlippenpiercing, gerötete Wangen. Das Mädchen blickt von seinem Buch auf. Seine Augen haben die Farbe von Veilchen.

„Ist da noch frei?“, fragt Merle.

„Hawking“, sagt das Mädchen, „er schreibt, es gibt außerirdische Intelligenz.“

„Hab ich auch was drüber gelesen“, sagt Merle.

„Er schreibt, es ist unwahrscheinlich, dass sie Kontakt aufnehmen“, sagt das Mädchen.

Es hat ein Tattoo am Unterarm, eine Schlange.

„Weil sie nicht wollen?“, fragt Merle.

Das Mädchen lächelt.

„Ich heiße Romy“, sagt es, „heute abend fängt übrigens ne Science-Fiction-Reihe an, im Studentenkino.“


Sie gehen zusammen hin. Danach in eine Kneipe. Zerrissene Plakate an den Wänden, Krümel in Bierlachen. Sie quetschen sich auf zwei freie Stühle an einem großen Tisch.

„Hier ist wenigstens ein bisschen was los“, sagt Romy. Sie hat ein lila T-Shirt an mit einem Feuer spuckenden Drachenkopf vorne drauf.

Merle nickt.

„Das mit den unendlich vielen Paralleluniversen ist Quatsch“, sagt Romy, „aber es gibt da diese Theorie, dass in Schwarzen Löchern Universen geboren werden. Muss ich dir mal erklären.“

„Warum studierst du nicht Physik oder sowas?“, fragt Merle.

„Zu schlecht in Mathe“, sagt Romy, „ist ja auch egal.“

Merle denkt an die grässlichen Diskussionen mit ihren Eltern. Studieren ist doch vertane Zeit, sagen sie.

„Ich will schreiben“, sagt sie.

Romy legt den Kopf schief und starrt sie an. „Was denn?“

„Einen Roman“, sagt Merle, „vielleicht Science Fiction“.

„Wow“, sagt Romy, „lass uns noch ein Bier trinken.“


Später sitzt Merle in ihrem Bett in dem kleinen Zimmer. Es riecht nach altem Fett. Das Geräusch der Autos hält sie wach. Sie hätte gerne Sehnsucht nach zu Hause. Fragt sich, ob ihre Eltern gerade streiten und das wievielte Bier ihr Vater trinkt. Aber vielleicht sind sie ja schon im Bett und träumen von ihrer Tochter, die endlich fort ist. Sie wird Romy fragen, wie ihre Eltern sind. Wie hübsch Romy ist und wie cool. In der Schule haben sich Mädchen wie Romy nicht mit ihr abgegeben. Sie schließt die Augen und denkt an Rudolf Hellmeier. Seine großen, schmalen Hände, wenn er dirigiert. Sein sanfter, freundlicher Blick. Sie legt sich hin und schiebt die Hand zwischen die Beine.


„Hast du ne Beziehung?“, fragt Romy.

Sie sitzen in der Cafeteria, am gleichen Platz wie zwei Tage zuvor.

Merle schüttelt den Kopf. „Du?“

„Affären“, sagt Romy, „einer ist echt süß, aus dem Nachbardorf. Der besucht mich vielleicht mal hier. Aber er ist irgendwie … naja, wie Jungs halt so sind.“

„Ich mag auch lieber ältere Männer“, sagt Merle.

„Die interessanten sind meist verheiratet“, sagt Romy, „wobei – das stört mich auch nicht besonders.“

„Mein Chorleiter zu Hause“, sagt Merle, „der ist wirklich süß und … er hat so einen Blick, als könne er in mich reingucken, weißt du … naja, natürlich ist er verheiratet, und zwei Kinder hat er auch.“

„Weiß er es?“

Merle schließt die Hände um ihre Kaffeetasse.

„Schreib ihm doch ne Mail. Vielleicht kommt er her.“


Nach der Romantik-Vorlesung geht sie mit Romy die Straße entlang Richtung Park. Die Häuser sind verfallen, viele stehen leer. Romy schwenkt ihren knallgrünen Lederrucksack herum.

„Die Stadt ist tot“, sagt sie.

„Ob es auf andern Planeten auch solche Städte gibt?“

„Ich glaub nicht, dass jemand so Scheiß-Häuser baut wie wir“, sagt Romy, „kannst ja was drüber schreiben, in deinem Roman.“


Am Abend stellt Merle ihr Notebook auf den Tisch und öffnet die Roman-Datei. Es ist eigentlich nicht Science Fiction, eher Fantasy. Die Geschichte von einer Vampirfrau, die einen Musiker liebt. Sie liest eine Weile, was sie geschrieben hat, und wechselt in ihr E-Mail-Programm. „Lieber Rudolf“, schreibt sie, „ich glaube, du weißt noch nichts von meinen …“ Sie schüttelt den Kopf. Schließt die Nachricht, ohne zu speichern.


Sie geht mit Romy in einen Film über ein Raumschiff, das in einem Schwarzen Loch versinkt. Romy ist begeistert. „Stell dir vor, sowas passiert wirklich“, sagt sie und hakt sich bei Merle unter.

„Meine Eltern sind einfach nur bescheuert“, sagt Romy später beim Bier, „mein Dad hat drei Wochen lang nicht mit mir geredet, als ich das Piercing hab machen lassen. Stell dir vor, du sitzt beim Frühstück mit deinem Dad und er quatscht einfach gar nichts.“

„Mein Vater redet eher zu viel zum Frühstück“, sagt Merle, „jedenfalls, wenn er schon was getrunken hat.“

„Scheiß-Eltern“, sagt Romy, „lass uns drauf anstoßen, dass wir von denen weg sind.“

Merle nickt. Wenn nur dieses komisch leere Gefühl nicht wäre.

„Was ist?“, fragt Romy, „wegen deinem Chor-Typen? Hat er nicht geantwortet?“

Merle nippt an ihrem Bier. „Schmeckt irgendwie nach Gemüsesuppe“, sagt sie.

„Es gibt hier nen klasse Schuppen“, sagt Romy, „bisschen punkig und retro. Gehn wir dahin.“


Der Weg führt an den Bahngleisen entlang. Ein Kellereingang, ein Stempel auf die Hand. Romy tanzt. Sie trägt ein tief ausgeschnittenes türkises Top, das mit schwarzen Schlangen bedruckt ist. Ihr ganzer Körper scheint von Musik durchzuckt. Merle steht mit ihrem Glas am Rand. Sie mag lieber Mahler und Bruckner. Aber Romy beim Tanzen zuzugucken ist schön. Wie ein kleiner Anfang von einem neuen Leben.


Als sie hinausgehen, schimmert ein silberner Streifen am Horizont. Romy bleibt stehen, legt den Kopf in den Nacken, das Gesicht zu den blassen Sternen.

„Irgendwo auf einem Planeten da oben“, sagt sie, „stehen vielleicht gerade zwei wie wir.“

„Keine grünen Männchen?“, fragt Merle.

„Grün vielleicht“, sagt Romy, „aber trotzdem wie wir.“

„Aus Sternenstaub“, sagt Merle, weil ihr das Wort plötzlich einfällt mitten in dem Rauschen in ihrem Kopf. Romy blickt sie an und lächelt. Mit einer flüchtigen Bewegung streift ihre Hand Merles Wange.


Der November hat begonnen. Die Straße vor Merles Fenster ist nass und dunkel. Darüber eine graue Fläche, die der Himmel sein könnte. Wenn ein Wesen von einem fernen Planeten auf die Erde käme, denkt Merle, würde es mich hier nicht finden. Dann denkt sie an Romy, die tanzt.


Das Telefon klingelt. „Du könntest mich mal besuchen“, sagt Romy, „zum Beispiel morgen abend. Ich hab ne Überraschung für dich.“


Merle geht eine lange Straße entlang. Die hohen, grauen Häuser werden immer schäbiger. Dazwischen brache Stellen, Mauerreste überwuchert von dornigem Grün. Eine Krähe huscht über den Bürgersteig. Romy wohnt in einer schmalen Seitenstraße im zweiten Stock.

Musik dröhnt aus dem Zimmer. Romy umarmt Merle. Ihre Augen sind schwarz geschminkt, die Lippen lila. Das Zimmer ist überraschend groß. Bücher und Papierstapel liegen herum, eine blassblaue Matratze in der Ecke, darüber ein Mobile mit Planeten. Auf dem zerschlissenen Sofa sitzt ein junger Mann. Schulterlanges, braunes Haar, ein hübsches Gesicht. Romy drückt Merle ein Glas mit grüner Flüssigkeit in die Hand. „Das ist Absynth“, schreit der junge Mann gegen die Musik, „aber der echte.“

Sie tanzen eine Weile zu der Musik, irgendwas punkig-elektronisches. Der Junge heißt David. Er bietet Merle eine Zigarette an und sie gehen hinaus auf einen schmalen Balkon mit niedrigem Geländer. „Ist was für Lebensmüde hier“, sagt David. Dann reden sie über Filme. Es wird dunkel draußen.

Romy legt ruhigere Musik auf. Merle tanzt mit David. Seine Hand auf ihrem Rücken, ihrem Po. Es fühlt sich gut an, aber irgendwie nicht richtig. David zieht sie auf die Matratze. Er küsst ihre Schulter, schiebt ihren Rock hoch. Dann fühlt sie Romys Atem in ihrem Nacken, ihre Hände auf ihren Brüsten. Die Musik scheint jetzt weit fort, eine hohe, künstliche Frauenstimme. Merle setzt sich auf.

„Wenn du willst, geh ich“, sagt Romy, „ich hab ihn extra eingeladen für dich.“

Merle fühlt sich zittern, Schweiß auf ihrer Stirn. Wut macht sich in ihr breit wie ein unbekanntes Tier. „Was für ne Scheißidee“, sagt sie.

David rappelt sich auf, zündet eine Zigarette an.

„Ich wollte dich ja nur ablenken von deinem verklemmten Chor-Typen“, sagt Romy. Ihre Augen sehen schwarz aus wie schlammige Wasser.

„Ich gehe besser“, sagt Merle und zieht ihren Rock zurecht.


Der Heimweg ist lang und dunkel und kalt. Zu Hause trinkt Merle den Rest einer Weinflasche aus, die sie unter der Spüle findet. Schlafen kann sie nicht.


Am nächsten Tag im Hörsaal sieht Romy sich nicht nach ihr um. Merle geht stumm hinaus. Sie meldet sich bei einem Studentenchor zum Vorsingen an. Am Abend versucht sie, an ihrem Roman zu schreiben. Sie erfindet eine neue Figur, die Romy ähnlich ist, und streicht sie wieder. Sie trinkt eine Flasche Wein, hört Musik und weint. Im Traum sieht sie Romys Gesicht.


An einem kalten Dezemberabend klingelt das Telefon.

„Ich weiß, es ist spät“, hört sie Romys Stimme, „aber ich hab morgen früh einen Termin. Ich brauche jemanden, der mitkommt.“


Sie fahren mit der Straßenbahn. Romy ist blass, ihre Augen wirken klein in der grellblauen Schminke.

„Bist du krank?“, fragt Merle.

„Nur ein kleiner Eingriff“, sagt Romy. „Dauert ne Stunde oder so. Du musst auf mich warten.“

Die Klinik liegt weit draußen. Es ist heller hier. Das Gras zwischen den Wegen leuchtet seltsam grün. Lange Gänge, schwere Türen. Merle wagt nicht zu sprechen. Romy verschwindet in einem Zimmer. Merle setzt sich auf einen orangefarbenen Plastiksitz, blättert in einer Zeitschrift.

Nach einer halben Stunde kommt eine Frau in weißem Kittel aus dem Zimmer. „Ihre Freundin liegt im Ruheraum“, sagt sie.

Vorsichtig tritt Merle an die Liege. Sie würde gerne Romys Hand nehmen, die schlaff auf deren Bauch liegt, doch sie traut sich nicht.

„Wer war denn der Vater?“, fragt sie.

Romy schließt die Augen.


Als sie aus dem Bus aussteigen, scheint die Sonne. Weiße Wolken wehen durch den Himmel.

„Ich muss mich hinsetzen“, sagt Romy. Sie ist sehr blass. Merle führt sie zu einem Mäuerchen auf der Brache gegenüber der Straße, in der Romy wohnt. Zaghaft streichelt sie ihren Arm.

„Es war wie ein Alien“, sagt Romy, „ein fremdes Wesen, plötzlich in mir drin.“

„Ja“, sagt Merle. Sie kann es sich nicht vorstellen, das Gefühl. „Dir geht’s sicher bald besser“, sagt sie.

„Ich hab’s auf dem Ultraschall gesehen“, sagt Romy, „es sah aus wie eine Erdnuss.“

Merle legt den Arm um sie. Romys Haare kitzeln ihren Hals. So sitzen sie und blicken auf das verfallene Haus gegenüber. Schwarze Fenster starren sie an. Die Sonne wärmt ihre Gesichter. Romy beginnt vor sich hinzusummen wie ein kleines Kind.

„Bald geht’s dir besser“, sagt Merle und fühlt sich fast ein bisschen glücklich.