Isabel Kobus - Literatur - Leseprobe Erleuchtung

Erleuchtung

von Isabel Kobus


Seit ich nicht mehr trinke, sauge ich den Anblick fremder Männer in mich ein. Dieser hier hat wirres Haar und einen stoppeligen Bart wie ein kiffender Hippie. Aber seine blauen Augen sind klar. Es ist das zehnte oder elfte Meeting der Selbsthilfegruppe. Er scheint schon länger dabei zu sein, war aber in den letzten Wochen in Kambodscha oder so unterwegs. Ist auf einem Boot den Mekong entlang gefahren und rundherum wurden die Regenwälder abgeholzt. Das erzählt er, ohne eine Miene zu verziehen. Als die Sitzung vorbei ist, steht er an der Tür und sieht mich an.

 

„Hast du die Gruppe vermisst, als du unterwegs warst?“

Wir laufen durch ein heruntergekommenes Wohngebiet.

„Nein“, sagt er und zupft an seinem Bart.

„Bist du öfter auf Reisen?“

Er nickt. Kein großer Redner. Vor einem dreistöckigen Altbau bleibt er stehen und kramt seinen Schlüssel hervor.

„Ich heiße Casper“, sagt er, „willst du mit hochkommen?“

Seine Wohnung ist noch unaufgeräumter als meine in den schlimmsten Zeiten. Durch die angegrauten Rollos fällt kaum Licht. Der einzige Stuhl ist mit Klamotten bedeckt. Ich setze mich auf die Matratze, die auf dem Boden liegt. Casper setzt sich neben mich und küsst mich. Er riecht nach Räucherstäbchen. Ein großer Küsser ist er auch nicht, aber seine Hand auf meinem Rücken fühlt sich warm an und irgendwie richtig.

 

Am Fußende der Matratze steht eine nasenlose Buddha-Statue. Daneben lehnt ein Karton an der Wand, auf dem mit gelber Tusche geschrieben ist: „You are right here right now“. Ich tippe auf Caspers nackte Schulter und frage: „Ist das da dein Motto?“

Er schweigt eine Weile und sagt dann: „Naja, ich versuch’s halt. Achtsam sein und so. Nur im gegenwärtigen Augenblick fühlt man sich mit allem verbunden.“

„Ich hab mich so gefühlt, wenn ich ’nen Liter Wein intus hatte“, sage ich.

„Na toll“, sagt er, „warum hast du dann aufgehört?“


(...)


Die ganze Geschichte ist veröffentlicht in Isabel Kobus, Anderswo leuchten die Straßen, Norderstedt 2016 (BoD), ISBN: 978-3-7412-5211-2

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