Isabel Kobus - Literatur - Kurzgeschichte - Das Haus

Das Haus

von Isabel Kobus, veröffentlicht in:

Anderswo leuchten die Straßen

und Ort der Augen. Blätter für Literatur aus Sachsen-Anhalt, 1/2010


Es war wunderschön. Ein zweistöckiges Gutshaus aus dem 19. Jahrhundert, ockergelb, schwer und doch elegant. Die symmetrische Fassade schimmerte im Licht der vergehenden Sonne. Drumherum Wiesen, ein Kornfeld, vereinzelt knorrige Bäume. Die Einfahrt war noch von Gras überwuchert. 


Lisa öffnete die Tür. Sie trug ihr Haar länger, ihre sanften blauen Augen geschminkt.

„Es ist genauso, wie du es beschrieben hast“, sagte ich.

„Meine Liebe“, sagte sie, „es ist so schön.“ Ich wusste nicht, was sie meinte, das Haus oder unser Wiedersehen nach mehr als einem Jahr.


Die Haustür führte in eine Halle, hoch und dunkel wie eine Kirche. Nur die Wände waren beleuchtet, und die Bilder: Kohlezeichnungen in erstaunlicher Größe zeigten Figuren, Paare in seltsamen Umarmungen.

„Es ist noch nicht fertig eingerichtet“, sagte Lisa, „wir haben so viel daran gearbeitet, du weißt ja.“

Ich dachte an ihre Briefe der letzten Monate. Sie hatte fast nur von dem Haus erzählt.


Im Wohnzimmer hockte Shiva vor dem Fernseher. Sie war im Juli vier geworden, doch sie wirkte älter. Ihr Haar war dunkel, wie das von Ruben, ihr Gesicht zart und ruhig. Sie blickte kaum auf.

Lisa stellte eine Karaffe mit Sherry auf den Couchtisch.

„Ich hab meine alten Freunde vernachlässigt“, sagte sie.

„Hast du hier neue gefunden?“

„Es ist eine seltsame Gegend“, sagte sie.

Das Geräusch eines Motors draußen.

„Ruben kommt“, sagte Lisa.

Ruben: groß und dunkel, mit diesem schmalen Künstlergesicht. „Schön, dass wir uns mal wiedersehen“, sagte er. Reichte mir die Hand über den Tisch hinweg. Ich wünschte, er würde mich umarmen.


Später saßen wir im Esszimmer an einem riesigen Eichentisch. Große Fenster, neu eingesetzt. Dahinter das Grün der Wiesen, dunkler werdend bis hin zu einer Allee von Pappeln.

„Ich habe Blumen gebastelt im Kindergarten“, sagte Shiva. Das klang, als sei es ihre Pflicht uns zu unterhalten. Vielleicht das Alter. Was wusste ich schon von Kindern.

„Du musst dir den Ort ansehen“, sagte Lisa zu mir, „er hat Häuser wie Zwerge.“

Ruben sagte: „Sieht immer noch aus wie vor zweihundert Jahren.“


Mein Zimmer lag im ersten Stock. Eine Glastür führte auf die Terrasse. Unten im Garten griechische Götter in kniehohem Gras. Ich legte mich aufs Bett, dachte an früher: Lisa, Ruben und ich in den Jahren des Studiums. Wir hatten alle französischen Filme gesehen, nächtelang Rotwein getrunken, im Sommer nachts im Fluss gebadet neben dem Studentenwohnheim.


Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Draußen die dunklen Wiesen, Baumschatten wie Gespenster. Eine Grille zirpte. Ich war das Land nicht gewohnt. Zu Hause, vom fünften Stock aus, blickte ich auf Dächer, grau und rot, dahinter das Uni-Hochhaus. Bäume nur ein paar, an der Straße weit unten.

Ich hörte Stimmen im Haus. Eine Männerstimme, zornig. Ein Weinen. Ich rollte mich auf der Seite zusammen.


„Wie läuft es bei dir?“, fragte Lisa beim Frühstück, „hast du einen Neuen?“

„Davon hätt’ ich dir geschrieben“, sagte ich.

„Immer nur Arbeit?“

Ich schwieg. Lisa wusste, dass ich meinen Job an der Uni liebte. In meinen Briefen hatte ich ihr von dem Buch erzählt, an dem ich schrieb.

„Manchmal denke ich, dass ich auch gerne arbeiten würde“, sagte Lisa, „naja, vielleicht muss ich ja bald.“


Am Nachmittag liefen wir durch breite, gepflasterte Straßen. Shiva an Lisas Hand. Niedrige Backsteinhäuser und Fachwerk, rau verputzt. Kaum Menschen auf den Straßen. Schließlich das Schloss, sein barocker Garten von der Sonne durchflutet. Als hätte eine längst vergangene Zeit begonnen und die nahe Vergangenheit wäre  verschwunden.

„Ja, das ist es wohl“, sagte Lisa. „Und dann das Haus. Ich habe mich sofort in das Haus verliebt. Und Ruben auch. Obwohl er ja ein Stadtmensch ist. Wie du.“


Als wir zurück waren, blieb ich in der Halle stehen. Die Bilder: Seltsam verrenkt und gespreizt die Körper des Mannes und der Frau auf ihnen allen, als wüssten sie nicht, wohin miteinander. In den Hintergründen schiefe Wände oder schwarze Monde. „Ich weiß“, sagte Lisa, „etwas Buntes würde besser passen.“

„Wer hat sie gemalt?“, fragte ich.

„Er lebt im Ort“, sagte sie.


Ruben kam nicht zum Abendessen. Lisa knallte die Teller auf den Tisch. „Es ist unhöflich“, sagte sie, „jetzt wo Besuch da ist.“

Als Shiva im Bett war, holte Lisa die Sherryflasche. Sie trank schweigend.

„Ist was nicht in Ordnung?“ fragte ich nach dem dritten Glas.

Lisa strich sich heftig über die Stirn. „Frag Ruben!“, sagte sie, „frag ihn, was nicht in Ordnung ist! Er ist nicht mehr derselbe wie früher.“

Sie weinte.

„Gehst du noch manchmal in die Kneipe am Kino?“, fragte sie. „Da hat mir Ruben den Heiratsantrag gemacht.“

Ich erinnerte mich. Sie hatte es mir am folgenden Abend erzählt, voller Glück ihre Stimme, und ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen.

Ich legte einen Arm um sie, und wir redeten weiter von alten Zeiten.


In der Nacht erwachte ich von einem Geräusch. Mein Kopf war schwer von Wein und Sherry. Vielleicht hatte ich geträumt. Ich öffnete die Tür zur Terrasse. Der Mond klebte am Himmel, fast rund. Ein Stück entfernt, zur hinteren Seite des Hauses hin, eine Gestalt. Es war Ruben. Er rauchte.

„Kannst du nicht schlafen?“, fragte ich.

„Ich schlafe kaum noch“, sagte er.

Sein Gesicht sah anders aus im weißen Mondlicht. Sein Kinn stoppelig, Tränensäcke unter den Augen.

„Stress in der Firma?“

„Das Übliche“, sagte er.

Ich lehnte mich an die Brüstung.

„Malst du noch?“

Er schwieg. Die Grille begann wieder zu zirpen.

„Vielleicht brauchst du einen Ausgleich.“

„Du mit deinen Ratschlägen“, sagte er.

Wind hob sich und ließ die Gräser und Bäume in verschiedenen Tonarten singen.

„Bist du glücklich mit Lisa?“

Hatte ich diese Frage wirklich gestellt? Er gab keine Antwort.


„Ich habe euch reden gehört, heute nacht“, sagte Lisa.

Ihr Gesicht war grau, die Augen rot gerändert. Sie verschüttete Kaffee. „Mein Schlafzimmer ist unter deinem. Er schläft oben, allein.“

Sie zerrte eine Scheibe Toastbrot aus der Packung.

„Vielleicht braucht er einfach mehr Freiraum“, sagte ich.

Lisa schleuderte die Brotscheibe auf den Tisch.

„Du glaubst, du weißt alles“, sagte sie. „Du verstehst ihn, ja, natürlich. Du glaubst, jetzt ist deine Stunde gekommen, nicht wahr?“

Ich stand auf. Lisa folgte mir nicht. Ich stieg in mein Auto und fuhr die Einfahrt hinaus. Es war wie früher, als ich fünfzehn, sechzehn war. Wenn meine Mutter mir sagte, was sie alles an mir falsch fand. Ich parkte im Ort und lief durch die Straßen, verirrte mich. Ich versuchte zu weinen.


Ich stand vor einem Schild. Darauf der Name, den ich in krakeliger Signatur auf den Bildern in der Halle gesehen hatte. Ein Atelier, Bilder im Schaufenster. Landschaften in Kohle und Acryl.


Der Maler war älter, als ich gedacht hatte. Blaue Augen, ein Gesicht voller Leben.

„Ich kann Ihnen noch mehr Bilder zeigen“, sagte er.

„Hab schon welche gesehen“, sagte ich, „bei meinen Freunden im Gutshaus.“

Er nickte. „Ich habe sie eigens für Ruben und Lisa gemalt. Habe versucht, die Stimmung zu treffen.“

„Die Stimmung?“

„Erfassen wir immer genau, was wir fühlen?“, sagte er.

„Ruben hat früher auch mal gemalt“, sagte ich.

Der Maler lächelte. Ich spürte die Kraft in seinen Augen.

Ich sagte: „Irgendetwas passiert mit den beiden, und ich weiß nicht, was es ist.“

„Was wird sich ändern, wenn Sie es wissen?“, fragte er.


Lisa stand vor der Tür, als ich kam. Sie lief auf mich zu und umarmte mich. „Es tut mir so Leid“, sagte sie. Ihre Tränen liefen an meinem Hals herunter, ihr Atem roch nach Sherry. „Ich war nicht ich selbst“, sagte sie.


Shiva spielte in der Halle mit Lego. Ich sah ihr zu.

„Ich baue ein Haus“, sagte sie, „es ist größer als das Haus von Mama und Papa.“

Früher hatte ich manchmal gewünscht, sie wäre mein Kind. Jetzt war sie mir fremd. Was wäre, wenn ich eigene Kinder hätte? Würde ich sie auch eines Tages anblicken wie Fische in einem Aquarium?


„Das Haus ist wie Klebstoff“, sagte Lisa, „es klebt uns zusammen, Ruben und mich. Auch Shiva ist Klebstoff. Aber er hält nicht mehr.“

„Warum nur?“ fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und begann, die Küche aufzuräumen.


Der nächste Tag war ein Samstag. Ruben war zum Frühstück da, jonglierte mit Tassen. „Capuccino für die Damen“, sagte er, erklärte mir die Kaffeemaschine, frisch gekauft.

Wir gingen zusammen in den Ort. Autos holperten übers Pflaster.

„Ich hab gestern den Maler getroffen“, sagte ich.

Shiva sagte: „Der Maler ist doof.“

„Warum?“, fragte Lisa.

Shiva schob die Unterlippe vor und schwieg.

„Lass sie doch“, sagte Ruben. Er legte einen Arm um Lisa. Sie wich zurück.

Am Abend spielten wir Backgammon, wie früher.


Ich konnte nicht schlafen. Blickte zum Fenster hinaus, bis die Wiesen silbrig verzaubert wurden. Unter mir hörte ich leise Stimmen. Neben einer Gipsstatue stand Lisa mit dem Maler. Sie flüsterten, gestikulierten.


Lisa hängte Wäsche auf. Wieder ein strahlender Morgen. Shiva kauerte im Wohnzimmer, sah fern. Ich wagte nicht, Lisa nach dem Maler zu fragen. Kam mir vor wie ein neugieriges altes Weib.

„Was wird denn nun mit euch?“, fragte ich schließlich.

Sie zuckte die Schultern.

„Zwischen Ruben und mir ist nie was gewesen“, sagte ich, „falls du das glaubst.“

„Das spielt keine Rolle“, sagte sie, „das hier ist was ganz anderes.“


„Ich habe immer zu tun“, sagte Ruben.

Er mähte das Gras in der Einfahrt.

„Familie“, sagte er, „ist eine Verpflichtung bis in den Tod.“ Sein Gesicht sah grimmig aus. Wenn er mich plötzlich lieben würde, dachte ich, würde ich es nicht mehr wollen.


„Sie haben eine Affäre mit Lisa“, sagte ich.

Der Maler klaubte Stifte zusammen, reinigte Pinsel, rollte Leinwand aus.

„Das ist Unsinn“, sagte er. Seine Hände waren braun und stark wie die von einem, der Felder pflügt.

„Vor zwölf Jahren habe ich mich in diesen Ort verliebt“, sagte er, „in diese Landschaft und ihr Licht. Zwölf Jahre, aber ich bin ein Fremder geblieben.“

Er sah mich an wie ein Buch, von dem man sich fragt, ob man es lesen sollte.

„Es gibt noch ein Bild, das im Gutshaus hängen sollte“, sagte er. „Ich habe es nie gemalt. Nur die Skizze habe ich noch.“


In der letzten Nacht schwieg die Grille. Ich dachte an Lisas und Rubens Ehe, ein Schauspiel auf ländlicher Bühne. Ich war nichts als Zuschauerin. Vielleicht nicht einmal das. Ich blickte den Mond an. Fühlte die Kälte in mir.


Am nächsten Morgen: Die Wiesen und Felder von goldenem Licht besprenkelt. Lisa trug meine Tasche zum Auto, umarmte mich lange.

„Mir tut alles so Leid“, sagte sie.

Ich sah das Haus an, verabschiedete mich im Stillen von ihm.

An einer Raststätte hielt ich an und packte die Zeichnung aus. Sie zeigte ein Kind, still mit zartem Gesicht, in einem Käfig.

Ich fuhr den Rest der Strecke durch. Die Landschaft verlor allmählich an Farbe. Bald würde ich zu Hause sein.